Conférences

Theorie der Vielheiten bei Bergson
Cours du 30/11/1969

... Ich wollte euch eine Untersuchung über die Geschichte eines Worts vorschlagen, eine außerdem sehr partielle, sehr lokalisierte Geschichte. Das Wort ist das der Vielheit [multiplicité]. Es gibt einen sehr geläufigen Gebrauch von Vielheit. Beispielsweise sage ich: eine Vielheit von Zahlen, eine Vielheit von Handlungen, eine Vielheit von Bewusstseinszuständen, eine Vielheit von Erschütterungen. Hier wird Vielheit als kaum substantiviertes Adjektiv gebraucht. Sicherlich drückt sich Bergson häufig so aus. Aber andere Male wird das Wort Vielheit im starken Sinn gebraucht, als wirkliches Substantiv. So ist die Zahl ab dem zweiten Kapitel der „unmittelbaren Bewusstseinstatsachen“ [Essai sur les données immédiates de la conscience, 1889; dt.: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewusstseinstatsachen, 1911; Anm. d. Übers.] eine Vielheit, was überhaupt nicht dasselbe bedeutet wie eine Vielheit von Zahlen.

Warum spüren wir, dass dieser Gebrauch von Vielheit als Substantiv sowohl außergewöhnlich als auch wichtig ist? (Der Begriff der Vielheit: DI, Seite 169) Insofern wir das Adjektiv vielfältig [multiple] verwenden, denken wir nur ein Prädikat, das wir nötigerweise in Oppositions- oder Komplementärbeziehung mit dem Prädikat EINES setzen: das Eine und das Viele. Das Ding ist eines oder vieles und es ist sogar eines und vieles. Wenn wir im Gegenteil das Substantiv Vielheit verwenden, denken wir schon von da an, dass wir den Gegensatz der Prädikate Eines-Vieles hinter uns gelassen haben, dass wir uns bereits auf einem anderen Terrain befinden und auf diesem sind wir gehalten, notwendigerweise gehalten, zwei Typen von Vielheit zu unterscheiden. Mit anderen Worten: Der als Substantiv genommene Begriff der Vielheit impliziert selbst eine Deplacierung des ganzen Denkens. An die Stelle der dialektischen Opposition des Einen und des Vielen setzt man die typologische Differenz zwischen den Vielheiten. Und das ist sehr wohl was Bergson macht: in seinem ganzen Œuvre hört er nicht auf, die Dialektik als ein abstraktes Denken bloßzustellen, als falsche Bewegung, die von einem Gegensatz zum anderen verläuft, vom Einen zum Vielen und vom Selben zum Einen, die so aber immer die Essenz der Sache entschlüpfen lässt, d.h. das „Wie viel“ und das „poson“ [griech. f. „wie viel“; Anm. d. Übers.]. Deshalb wird er in Schöpferische Entwicklung [l’Evolution créatrice, 1907; dt.: 1912; Anm. d. Übers.], Kapitel 3, die Frage zurückweisen: „Ist der Elan vital einer oder viele?“ Denn der Elan vital ist wie die Dauer, er ist weder Eines noch Vieles, er ist ein Typ von Vielheit. Mehr noch: Die Prädikate Eines und Vieles sind selbst vom Begriff der Vielheit abhängig und passen genaugenommen nur zum anderen Typ der Vielheit, d.h. zu der Vielheit, die sich von jener der Dauer und des Elan vital unterscheidet: „Einheit und abstrakte Vielheiten sind wie Bestimmungen des Raums oder Kategorien des Verstandes.“ (Seite 713[i. frz. Org.; Anm. d. Übers.])

Folglich gibt es wohl zwei Typen der Vielheit. Die eine wird Vielheit der Gegenüberstellung, numerische Vielheit, unterschiedliche Vielheit, aktuelle Vielheit, materielle Vielheit genannt, und sie hat, wie wir sahen, sowohl das Eine als auch das Viele als Prädikate.

Die andere: Vielheit der Penetration, qualitative Vielheit, konfuse Vielheit, virtuelle Vielheit, organisierte Vielheit und sie weist sowohl das Prädikat des Einen wie des Selben zurück. Evidenterweise ist es einfach unter dieser Unterscheidung der zwei Vielheiten die Unterscheidung des Raums und der Dauer wieder zu erkennen. Aber es ist wichtig, dass im zweiten Kapitel von Zeit und Freiheit das Thema Raum-Dauer nur in Funktion des vorgängigen und tieferen Themas der zwei Vielheiten eingeführt wird: „es gibt zwei sehr differente Arten der Vielheit“, die numerische Vielheit, die den Raum als eine ihrer Bedingungen impliziert und die qualitative Vielheit, die die Dauer als eine ihrer Bedingungen mit sich bringt.

Anmerkung: Die numerischen Vielheiten haben zwei Dimensionen: Raum und Zeit; die anderen: Dauer und vor-räumliche Ausdehnung.

Nun, Bergson beginnt mit einer Studie der numerischen Vielheiten. Und seine Untersuchung enthält, so glaube ich, ein sehr originelles Prinzip: nicht, dass es eine Vielheit von Zahlen gäbe, sondern jede Zahl ist eine Vielheit, selbst die Einheit ist eine Vielheit. Und hiervon leiten sich drei Thesen ab, die ich nur zusammenfasse:
1. Die Reduktion der Zahl auf ausschließlich kardinale Begriffe: die Zahl als Ansammlung von Einheiten. Die ordinale Definition der Zahl einer Ansammlung ist rein extrinsisch oder nominal, wobei das Zählen keinen anderen Sinn hat, als den Namen der bereits gedachten Zahl zu finden.
2. Der Raum, sei es ein idealer Raum, als Bedingung der Zahl, die in der ordinalen Serie nur sekundär auftaucht, oder als verräumlichte Zeit, d.h. als Sukzessionsraum.
3. Die Teilbarkeit der Einheit; denn eine Zahl ist nur durch die kardinale Verknüpfung [colligation] eine Einheit, d.h. durch den einfachen Akt der Intelligenz, der die Sammlung als ein Ganzes auffasst; aber der Akt der Verknüpfung fußt nicht nur auf einer Pluralität von Einheiten, sondern jede dieser Einheiten ist nur durch den einfachen Akt, der sie ergreift, eines und ist in sich selbst vielfältig durch ihre Unterteilungen, auf denen die Verknüpfung beruht. Es ist wohl in diesem Sinn, dass jede Zahl eine unterschiedliche Vielheit ist. Und hiervon nehmen zwei essentielle Konsequenzen ihren Ausgang: sowohl das Eine und das Viele gehören zu den numerischen Vielheiten als auch das Diskontinuierliche und das Kontinuierliche. Das Eine oder das Diskontinuierliche qualifizieren den unteilbaren Akt, durch den man eine Zahl auffasst; dann ist es etwas anderes, wenn das Viele oder das Kontinuierliche im Gegenteil die durch diesen Akt verknüpfte (unendlich teilbare) Materie qualifiziert.
Damit haben wir also die Art, wie sich die numerischen Vielheiten definieren, und auf gewisse Weise sind sie es, die den Raum einfassen: DI, Seite 62.
Nun, es gibt etwas sehr seltsames. Die Données immédiates erscheinen 1889. 1991 erscheint die Philosophie der Arithmetik von Husserl. Husserl schlägt dort ebenfalls eine Theorie der Zahl vor. Er bekräftigt dort den ausschließlich kardinalen Charakter der Zahl, die Verknüpfung als Synthese der Zahl und den teilbaren Charakter der Einheit. Wenn er von Bergson abweicht, dann nur bezüglich der Beziehung der Verknüpfung zum Raum, wobei Husserl denkt, die Verknüpfung sei von der räumlichen Intuition unabhängig; aber selbst diese Differenz wird ernsthaft abgeschwächt, wenn man den Begriff des idealen Raums bei Bergson beachtet, wobei der Raum ganz und gar keine Eigenschaft der Dinge ist, sondern ein Aktionsschema, d.h. eine originale und irreduzible intellektuelle Synthese. (vgl. MM 345) Folglich gibt es einen erstaunlichen Parallelismus. Mehr noch, Husserl seinerseits fasst die Zahl als einen Typen von Vielheit auf.

Außerdem stellt Husserl diesen Typ der Vielheit, der die Zahl ist, einen anderen Typ gegenüber: wenn ich ein Zimmer betrete und sehe, dass „viele Leute“ dort sind, wenn ich den Himmel betrachte und „viele Sterne“ sehe, „viele Bäume im Wald“, oder eine Säulenreihe im Tempel. Dort gibt es tatsächlich keine numerische Vielheit: es ist in seinem Aufkommen selbst, dass ein sensorielles Aggregat eine Spur aufweist, die es als Vielheit wiedererkennen lässt, und als Vielheit ganz anderer Art als die numerische Vielheit, ohne jede explizite Verknüpfung: es ist eine implizite Vielheit, eine qualitative Vielheit. Husserl spricht von „quasi-qualitativen Charakteren“ oder von einer organisierten Vielheit „figuraler Faktoren“ [facteurs figuraux].
Dies ist keine Eigenschaft des Ganzen, das niemals, wie man zu leichtfertig sagt, unabhängig von seinen Elementen ist, sondern mit diesen komplexe Beziehungen unterhält, völlig verschieden von denen einer numerischen Sammlung mit den ihren. Und Husserl verzichtet nicht darauf, das Beispiel der Melodie anzuführen. Es ist recht evident, dass Husserl hier den Arbeiten seines Zeitgenossen Ehrenfels anschließt, der 1890 von Qualitäten-Gestalten* [*: dt. i. Org.; Anm. d. Übers.] sprach, geschieden von jenen den Elementen eigenen Qualitäten, einer anderen Ordnung als diese angehörend, und v.a. ausdrücklich den Arbeiten von Stumpf, der sich 1885 auf den Begriff der Verschmelzung* berief um eine Art passiver (nicht intellektueller) Synthese zu bezeichnen, Gewahrwerden von Qualitäten einer höheren Ordnung als derjenigen der Elemente. Wir haben folglich, was eine nicht-numerische Vielheit ist. Nun, das scheint sehr fern von Bergson. Und dennoch ist dem überhaupt nicht so: in Kapitel 2 von Zeit und Freiheit können die Schläge der Wanduhr in eine numerische Vielheit eintreten; was aber passiert, wenn ich zerstreut bin? Sie gründen in einer nicht-numerischen, qualitativen Vielheit. Vielheit der Fusion, der Interpretation. Es ist wahr, dass es sich bei Bergson um eine Fusion handelt; bei Husserl überhaupt nicht, auch nicht bei Stumpf, die anmerken, dass auch bei mehr Elementen die Noten einer Melodie klar wahrgenommen werden.